Richard C. Tieger war ein echter New Yorker: Aufgewachsen in der North Bronx, bzw. Riverdale, studierte er später auch am Lehman College der City University of New York. Ich traf ihn das erste Mal, als ich selber nach einer längeren Zeit in den Vereinigten Staaten an meine Hochschule in Deutschland zurückkehrte. Zufälligerweise wurden wir Mitbewohner, kamen aber erst durch seine genealogischen Interessen in engeren Kontakt: Seine Familie stammte ursprünglich aus Galizien und Bessarabien, die eigenen Urgroßeltern waren aber schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Staaten ausgewandert.
Ich konnte ihm damals, etwa 1997, dabei helfen, einige Briefe seiner Vorfahren, die er irgendwo gefunden hatte, vom Jiddisch-Deutschen ins Englische zu übersetzen. Gemeinsam erkundeten wir das Nachtleben der Hasestadt, von der Iburger Straße bis hinunter zur EW-Fete und zum Grünen Jäger. Rich war nicht nur ein großer Trinker sondern auch ein großer Denker: obwohl er jüdischer Abstammung war, liebte er die deutsche Kultur und besonders die deutschen Philosophen. Beim Bier konnte er von Schopenhauer und Hegel sprechen wie kein Zweiter. Wie die meisten genialischen Menschen wirkte er auf Viele etwas befremdlich, aber er war einer der lustigsten, großzügigsten und loyalsten Freunde und Saufkumpane, die man sich wünschen kann. Nach seiner Rückkehr nach New York hatten wir Gelegenheit, uns noch einige Male dies- und jenseits des Atlantik zu treffen.
Von seinem Studium der Philosophie und der Chemie war er erst seit kurzem mit Auszeichnung graduiert, als im Jahre 2000 bei Rich Leukämie diagnostiziert wurde. Den Kampf um sein Leben nahm er, wie immer, mit Mut und Humor auf, konnte ihn aber letztlich nicht mehr gewinnen. Er hatte auch keine Gelegenheit mehr, seine bereits projektierte Promotion über Friedrich Nietzsche zu beginnen. Kurz vor dem Ende, als die Ärzte ihm nichts mehr verweigern mochten, wünschte er sich noch einen Conti Herforder, den ich ihm über Nacht mit UPS nach New York schickte. Ich bin froh, dass er noch Gelegenheit hatte, ihn zu trinken.
Heute vor zehn Jahren, am amerikanischen Nationalfeiertag, dem 4. Juli 2001, ist Richard Tieger in New York gestorben. Er wurde nicht einmal dreißig Jahre alt. Heute Abend trinke ich auf ihn, egal wo er jetzt sein mag.